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Wie bereite ich als Dirigent ein neues Werk für die Orchesterprobe vor?

Es gehört zum Alltag und zu einer der vielen interessanten Aufgaben des Dirigenten, Partituren vorzubereiten, sie zu bearbeiten und zu analysieren. Doch worauf muss ich achten? Welche Details sind wichtig? Wie gut muss ich die Partitur kennen, um sie meinem Orchester weiterzugeben? All diese Fragen muss der Dirigent sich stellen, lange bevor das Stück zum ersten Mal auf dem Pult der Musiker liegt.

Vorbereiten einer Partitur für die Probe

Foto: Rainer Serwe

Eine Partitur ist wie ein guter Roman: Sie enthält viele wichtige Informationen und eine Geschichte, bietet aber auch genügend Raum zur Interpretation und zu eigener Fantasie. Je besser ich als Dirigent die Partitur und damit die Musik kenne, umso leichter kann ich das Werk den Musikern nahebringen. Und umso leichter werde ich auch in der Probe auf das reagieren können, was ich höre - und nicht auf das, was ich sehe.

Jeder Dirigent sollte einmal versuchen, eine Probe oder einen Teil der Probe auswendig, ohne Partitur, durchzuführen. Der Eindruck des Gehörten ist ein ganz anderer als der Eindruck, den ich gewinne, wenn ich meine Noten verfolge. Das Lesen der Partitur nimmt mir Kapazitäten des Hörens.

Daher sollte das Ziel des Partiturstudiums klar sein: Ich kenne das Werk in all seinen Facetten und mache es zu einem Teil von mir.

Doch wie sieht eine mögliche und sinnvolle Beschäftigung mit der Partitur im Vorfeld der ersten Probe aus?

Zunächst möchte ich davor warnen, eine Partitur nur und ausschließlich mit Hilfe einer Aufnahme vorzubereiten, wie es viele Dirigenten praktizieren. Der Nachteil liegt auf der Hand: Durch eine Aufnahme bekommt man zwar einen Eindruck des Stücks, dieser bleibt aber durchweg oberflächlich. Außerdem lebt jede Art von Musik von eigener Interpretation. Diese geht natürlich weitestgehend verloren, wenn man sich an einer Aufnahme festhält und diese mehr oder weniger automatisch nachspielen will. Daher sollte die CD höchstens einen ersten Eindruck geben oder bei einzelnen Stellen als Ideengeber fungieren, um eventuell auch verschiedene Möglichkeiten der Interpretation zu vergleichen.

Eine spannende Herangehensweise an die Partitur ist es, sich vorzustellen, man dürfte die Uraufführung des Werks dirigieren und es dementsprechend nur die Partitur gäbe, noch keine Aufführungen oder gar Aufnahmen.

Gehe ich nun also ohne Aufnahme an die Partitur heran, gliedere ich den Bearbeitungsprozess in fünf Punkte:

  1. Hintergrund des Werks
  2. Überblick verschaffen
  3. Arbeit im Detail
  4. Umsetzung (Dirigiertechnik und Probenmethodik)
  5. Einführung des Werks im Orchester

1. Hintergrund des Werks

Liegt eine neue Partitur auf meinem Schreibtisch, interessiere ich mich zunächst für den Komponisten und den Hintergrund des Stücks. Bei Programmmusik frage ich nach der Geschichte oder der Inspiration; dann kann ich als Dirigent ansatzweise den Prozess des Komponierens nachvollziehen und verstehen.

Auch bei sogenannter absoluter Musik ist es interessant, den Kompositionsprozess, welche Ideen und Ziele der Komponist verfolgte, zu hinterfragen.

Interessant ist auch die Frage, ob es sich um ein Originalwerk für Blasorchester handelt oder das Werk ursprünglich für eine andere Besetzung konzipiert wurde. Hier wäre es durchaus hilfreich, die Originalnoten zu kennen und daraus die Bearbeitung für Blasorchester nachzuvollziehen. Hiermit geht dann auch die Frage einher: Wie setze ich das Stück klanglich um? Eine Bearbeitung einer Sinfonieorchesterpartitur sollte anders klingen und interpretiert werden als beispielsweise Rock- oder Popmusik.

Die Artikulation, Phrasierung, Balance - letztlich alle musikalischen Parameter - können von der ursprünglichen Fassung beeinflusst sein. Auch ein eventueller Text im Original gibt Aufschluss über die mögliche Interpretation des Werks. Mit diesem Background lässt sich Musik oft anders einordnen und interpretieren, vor allem aber kann es dem Orchester helfen, die Noten in Musik umzusetzen.


2. Überblick verschaffen

Nachdem ich nun den Hintergrund des Stücks kenne, verschaffe ich mir einen groben Überblick:

  • Welche Form hat das Stück, aus welchen Teilen besteht es?
  • Liegt dem Werk eine traditionelle formale Gliederung zu Grunde?
  • Aus welchen Melodien oder Elementen besteht das Stück, wann und wie treten sie im Verlauf des Stücks wieder auf?
  • Wie ist das harmonische Gerüst, in welchen Tonarten bewegen sich die einzelnen Teile?

All dies kann ich in einer Art Ablaufplan festhalten, den ich später noch um Besetzung und Besonderheiten ergänzen kann.

Dieser Formplan kann mir auch helfen, eine effektive Probe vorzubereiten.

Ein solcher Plan könnte folgendermaßen aussehen:

Übersichtsplan über die Partitur


3. Die Arbeit im Detail

Der Plan lässt sich natürlich ausbauen oder einschränken. So kann er einen ersten Überblick oder auch Auskunft bis ins Detail geben.

Nach diesem Überblick über das Stück steht die genaue Analyse auf dem Plan. Hierbei schaue ich vielleicht zunächst auf die Melodien: Wo und wie tauchen sie auf, welche Besetzung, Dynamik, Artikulation und Charakter haben sie?

Je nach Geschmack kann ich mir auch jetzt schon Gedanken über die Interpretation machen:

  • Welchen Spannungsbogen verfolgt die Melodie?
  • Wie lasse ich die Musiker phrasieren?
  • Setze ich bewusst Atempausen oder soll die Melodie durch chorisches Atmen durchlaufen?
  • Bleibt das Tempo stabil oder nehme ich mir Freiheiten in der Gestaltung (variables Tempo oder Agogik)?

Nach der Melodie nehme ich mir Gegenmelodien, Umspielungen und Rhythmen vor, kurz gesagt, alles, was um die Melodie herum passiert. Diesen Stimmen sollte ich in der Vorbereitung die gleiche Aufmerksamkeit schenken wie den Melodien. Viele Dirigenten stürzen sich zu sehr auf die Melodien und vernachlässigen alles andere, sowohl in der Vorbereitung wie auch in der Probenarbeit. Das hört man leider nicht selten bei der Aufführung.

Ganz wichtig bei den Überlegungen des Dirigenten sollte immer das Schlagwerk sein. Oft genug hört die Partitur für einen Dirigenten mit der Tuba auf und Schlagzeuger haben Narrenfreiheit, sofern sie nicht zu laut sind… Dirigenten sollten sich immer wieder bewusst machen, dass das Schlagwerk ein wichtiger Teil des Orchesters und damit auch des Gesamtklangs ist. Sie müssen genauso in einen homogenen Sound integriert werden wie alle anderen Instrumente.

Hierzu ist es unbedingt notwendig, die Stimmen zu kennen und sich auch mit dem Klang der notierten Instrumente zu beschäftigen.

Die Orchesterbalance optimieren

An komplexen Stellen mit vielen verschiedenen Elementen wie Begleitung, Nebenmelodie, Melodie, Umspielungen usw. sollte ich mir eine Gewichtung überlegen, also die Frage, an welcher Stelle was wichtig ist, denn sonst gibt es schnell ein akustisches Chaos, in dem der Zuhörer sich nur schwer zurecht findet. Dieser Aspekt ist wichtiger Teil der Orchesterbalance.

An vielen Stellen sollte man sich die Zeit nehmen, eine harmonische Analyse durchzuführen, die man im Idealfall selbst am Klavier spielen kann. Dies ist sehr hilfreich für das Verständnis des Stücks und beugt unliebsamen Überraschungen in der Probe vor. Ohnehin ist es ein hervorragendes Mittel, die Partitur am Klavier zu spielen und auch die Einzelstimmen einmal zu spielen und zu singen.

Gerade beim Singen drängen sich die wichtigen Fragen der Phrasierung, Artikulation und Atmung geradezu auf. Vorsingen ist ein gern genutztes Mittel der Probenarbeit. Hierbei sollte der Gesang in allen Parametern dem entsprechen, was ich hinterher hören möchte.

Die Arbeit mit Farben in der Partitur

Wieviel man in seine Partitur einträgt, bleibt jedem Dirigenten selbst überlassen - wichtig ist nur, sie gut zu kennen. Wem hierbei Farben zur Verdeutlichung verschiedener Parameter helfen, der sollte diese auch nutzen. So kann eine Farbe die Dynamik anzeigen, eine andere Farbe wichtige Einsätze und eine weitere Farbe Tempo oder Taktarten. Eine optisch sichtbare Einteilung der Partitur in Abschnitte kann sehr hilfreich sein.

Diese Eintragungen sind natürlich nur ein Hilfsmittel, sie sollen nicht über mangelnde Kenntnis der Partitur hinwegtäuschen. Die Musik soll in meinem Kopf sein, nicht in der Partitur.


4. Die Umsetzung (Dirigiertechnik und Probenmethodik)

Nachdem ich die ganze Partitur so bearbeitet habe, bin ich der Musik einen großen Schritt näher gekommen und sie sollte ein Teil von mir sein. Doch die Vorbereitung ist noch nicht abgeschlossen, schließlich muss ich nicht nur die Partitur und die Musik kennen, sondern es ist meine Aufgabe diese auch an die Musiker zu bringen. Der nächste Schritt ist also zwangsläufig die Überlegung, wie ich die Musik mit meinem Orchester erarbeiten kann.

Hierzu gehört einerseits natürlich das Handwerk: Ich muss das Werk in allen Facetten dirigieren können, mir in allen Bewegungen, Einsätzen und Übergängen absolut sicher sein, darüber hinaus aber auch üben, meine Interpretation des Werks in Bewegung umzusetzen. Auch hier gilt: Konzentration, die ich aufs Dirigieren verwenden muss, lenkt mich vom Hören ab.

Dirigenten sollten die Proben werkspezifisch vorbereiten, also einen konkreten Plan haben:

  • Was möchte ich proben?
  • Wo liegt mein Schwerpunkt?
  • Welche Probleme können auftreten?

Natürlich ist jeder Plan flexibel und muss zwangsläufig immer an die Probensituation angepasst werden. Gerade Neulingen am Dirigentenpult können geschriebene Pläne aber helfen.

Sollte es Besetzungsprobleme aufgrund fehlender Instrumente in meinem Orchester geben, überlege ich mir, wie ich diese auffangen kann und schreibe gegebenenfalls Passagen um, falls keine Stichnoten vorhanden sind.

  • Welche anderen Probleme können beim vorliegenden Stück auftreten?
  • Gibt es rhythmische oder technische Probleme, die ich vielleicht mit gezielten Übungen vorbereiten kann?
  • Welche Tonarten oder Akkorde, die später im Stück auftauchen und den Musikern vielleicht Probleme machen, kann ich zum Einspielen nutzen?

Probleme, auf die ich mich im Vorfeld gefasst mache und Lösungen parat habe, werden mich weniger Probenzeit kosten.

Alles in allem ist die Vorbereitung auf ein Stück durchaus zeitaufwendig, aber mindestens genauso spannend und abwechslungsreich. Zu erleben, wie die Musik langsam Teil von einem selbst wird und man immer tiefer in die komponierten Noten eindringt, ist ein interessanter Prozess und ein ergreifendes Gefühl. Darüber hinaus werden die Musiker es einem danken, da ich als Dirigent mit sorgfältiger Vorbereitung viel überzeugender und effektiver proben kann und so ein besseres Ergebnis erzielen werde.

Autor: Rainer Serwe


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